Am 27. August 1972 zeichnet der bald einundneunzigjährige Picasso den "Mann mit Stab" (Abbildung 1). In der Synthese von figürlichen Passagen und abstrakten Formen läßt sich ein lineares Gerüst ausmachen, welches figürliche und abstrakte Elemente verbindet und die Komposition strukturiert. Den Kern dieses Gerüsts bilden zwei verschränkte Rautenformen, deren Achse mit der senkrechten Achse der Figur zusammenfällt.
1907 findet sich in einem Skizzenbuch die Darstellung einer geometrisch überformten, frontal gesehenen Aktfigur ( Abbildung 2.). Von der Basis bis zum Scheitel gliedert eine Folge regelmäßiger Rauten die Figur, indem die wesentlichen Punkte des Körpers - Standfläche, Knie, Hüfte, Mitte und Begrenzung des Rumpfes nach oben, unten und zu den Seiten, Brust- und Armansatz, Scheitel - sich auf die markanten Punkte des Rautensystems beziehen. Im Bereich zwischen Knie und Scheitel ist die geometrische Gliederung der Rauten in eine Folge regelmäßiger Überschneidungen gebracht, wie sie in einfacher Weise auch im Kern der Zeichnung von 1972 vorliegt. Wie dort deckt sich die Achse der Figur mit der Achse der sich schneidenden geometrischen Formen.
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Abbildung 1 Mann mit Stab, 1972
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Abbildung 2 Geometrischer Akt, 1907
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Abbildung 3 Tabakpäckchen und Pfeife, 1918
Die Rautenformen der geometrischen Zeichnung von 1907 weisen auf die Nähe zu einer in der europäischen Malerei tradierten akademischen Kompositionsfigur hin, deren Kenntnis bei Picasso im Jahr 1918 durch das Bild "Tabakpäckchen und Pfeife" belegt ist (Abbildung 3). Die Verlängerung der Diagonalen der kleinen innenliegenden Raute führt bei dieser Figur zu einer, der geometrischen Figur von 1907 vergleichbaren Teilungsform. Entsprechend der akademischen Figur bindet der geometrische Kanon von 1907 die Rauten in ein Netz senkrechter und waagrechter Achsen und offeriert die Möglichkeit zur endlosen Fortsetzung der verschränkten Rautenfelder und Teilungsformen.
Picasso: "Die Chinesen lehren, daß man für ein Aquarell oder eine Tuschzeichnung nur einen einzigen Pinsel benutzen darf. Auf diese Weise nimmt alles, was du malst, die gleiche Proportion an. Durch diese Proportion erhält das Werk seine Harmonie, und zwar auf eine viel augenfälligere Weise, als wenn du Pinsel verschiedener Größe benutzen würdest."[1]
Die Einbindung einer Figur in einen geometrischen Kanon wie den von 1907 bestrebt die Harmonisierung der Proportionen, denn in der regelmäßigen geometrischen Abfolge und Teilung ergibt sich ein Bezug aller Größenrelationen, Teilformen und Richtungen zum Ganzen. Die menschliche Gestalt stellt in gewissem Grad eine Störung dieses Systems dar, indem die Formen des Körpers zwar eingegliedert werden können, die naturalistische Körperform ihrerseits aber auch eine Anpassung der geometrischen Proportion und Linienführung erzwingt. In der vorliegenden Aktstudie zeichnet sich dieser bildnerische Problembereich nur andeutungsweise - im Bereich der Schulter, Arme und Knie - ab, denn figürliche Darstellung und geometrischer Kanon liegen relativ deutlich getrennt vor. In der Folge wird, bei intensiver Verbindung und Durchdringung beider Formbereiche, in der Darstellung der menschlichen Figur das Element der wechselseitigen "Störung" - und der daraus notwendigerweise resultierenden Modifikationen der geometrischen und naturalistischen Formbestandteile - zu einem bedeutenden bildnerischen Problem.
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Abbildung 4 Aktstudien, 1906/07
Werner Spies stellt eine Verbindung zwischen einigen Proportionsstudien Picassos aus dem Frühjahr 1907 - in deren Umkreis die geometrische Aktfigur zu sehen ist - und Proportionsstudien Albrecht Dürers her [2]. Ein Vorbild Dürers von 1514 sieht er auch für das Körperprofil auf der linken Seite einer auf 1906/07 datierten Zeichnung[3] (Abbildung 4).
"Eine Zeichnung, die Zervos im sechsten Band (Zervos VI, 902) publizierte, geht, glaube ich, auf Proportionsstudien Dürers zurück, in denen Arme vom Körper segmentiert wurden. Dabei entstehen Binnenzeichnungen, die Picasso damals angeregt zu haben scheinen." [4]
Die von Spies angesprochenen Binnenzeichnungen lassen die Suche nach einer im Aufbau der menschlichen Gestalt enthaltenen Rhythmik erkennen. Liegt in der Profilzeichnung links die Aufmerksamkeit des Künstlers in erster Linie wohl in der Untersuchung einer linearen Körpergliederung, gilt das Interesse im Rückenakt rechts der aus der Gliederung erwachsenden Rhythmik. Besonders deutlich wird dies im rechten Arm der Figur und seinem, aus der anatomischen Gliederung entstehenden, rhythmischen Linienfluß.
Zwei bildnerische Aufgabenstellungen für den Bereich der Figur lassen sich 1907 bei Picasso erkennen: Zum einen die Erkundung einer primär linearen Gliederung und Rhythmik der naturalistischen Körperform, zum anderen der Versuch einen geometrischen Kanon mit dieser zu verbinden. Ein auf den Herbst oder Winter 1907 datiertes Blatt mit drei Beinstudien ( Abbildung 5 ) zeigt bei der linken unteren Studie für den Knie- und Wadenbereich zwei, durch weiche Linienführung zwar ein wenig verschliffene, doch deutlich erkennbare Rautenformen, die durch Diagonalen geteilt sind und sich entlang derselben verschränken. Die naturalistische Linienführung in den Konturen des von hinten gesehenen Beines, die Markierung von Kniegelenk und Kniekehle, wird flüssig und überzeugend in die sich durchdringenden Rautenformen eingebunden. Der Einfluß der naturalistischen Form macht sich im rhythmisch schwingenden Verschleifen der geometrischen Figuren bemerkbar.
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Abbildung 5 Beinstudien, 1907.
Offenbar besteht im Werk Picassos eine Verbindung zu Schemaformen einer akademischen Tradition, wie sie aufgrund der Proportionsstudien von 1907 vermutet werden darf und auf deren Weiterführung das Stilleben von 1918 und die figürliche Zeichnung von 1972 hindeuten. Es stellt sich daher die Frage nach der Herkunft des geometrischen Kanon von 1907 und nach den Regeln, denen er folgt.
"Heute sind wir in der unglücklichen Lage, keine Ordnung und keinen Kanon mehr zu haben, die die künstlerische Produktion bestimmten Regeln unterwerfen. Die Griechen, Römer, Ägypter hatten ihre Regeln. Ihrem Kanon konnte sich niemand entziehen, weil die sogenannte Schönheit durch Definition in diesen Regeln enthalten war. Aber sobald die Kunst jede Verbindung zur Tradition verloren hatte und jene Befreiung, die mit dem Impressionismus begann, jedem Maler gestattete, zu tun, was er wollte, war es mit der Malerei vorbei." [5]
In der freihand gezeichneten Konstruktion der geometrischen Aktfigur von 1907 geht das Konzept des Künstlers von einer Folge gleich großer Einzelformen aus. Während am Knie eine Form einfach an der anderen anschließt, ist im Bereich zwischen Knie und Scheitel die geometrische Gliederung in eine Folge regelmäßiger Überschneidungen dreier Rauten gebracht. Bezogen auf die ganze Figur ist die Gliederung durch 4 Rauten gleicher Größe unregelmäßig. Während die obere Hälfte des Körpers durch zwei, sich regelmäßig durchdringende, ganze Rauten und eine halbe gebildet wird, sind im unteren Körperbereich die Rautenformen einfach mit ihren Spitzen aneinandergesetzt, so daß die beiden Hälften des Körpers nach völlig verschiedenen Rhythmen gegliedert sind. Die verbindende Rautenform jedoch, die sich sowohl in das eine wie das andere "System" eingliedert, legt den Schluß nahe, daß die vorliegende unregelmäßige Gliederung auf ein einheitliches Konzept rückführbar ist.
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Abbildung 6
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Abbildung 7 Akt mit waagerechten Proportionslinien, 1907.
In den gleichen Umkreis gehören regelmäßig horizontal unterteilte Zeichnungen der gleichen stilisierten Figur (Abbildung 7). Wie schon erwähnt sieht Werner Spies diese Studien in der Tradition des in der Renaissance wurzelnden figürlichen Kanon.[6]
"Das Berechnungsschema, das Picasso in sein Diagramm einzeichnet, gehört, man vergleiche Dürers Underweysung der messung , Nürnberg 1525, zum akademischen Rüstzeug. Im Vorfeld des Kubismus stoßen wir auf eine theoretische Beschäftigung, die sich auf Dürer, Jacopo de'Barbari, Luca Pacioli, Alberti, schließlich auf Vitruv berufen kann." [7]
Welcher Art aber soll die "Vorstellung eines Kanon" [8] sein? Man muß betonen, daß die Gemeinsamkeit zwischen dem zitierten Gliederungsschema Dürers und Picassos Skizze lediglich in einer Teilung der Figur durch horizontale Linien besteht. Der Bezug zwischen Picassos Studien des Jahres 1907 und einer abendländischen Tradition ist aber mit Sicherheit zutreffend.
Die Verbindung der menschlichen Gestalt mit der abstrakten Form der Raute findet sich innerhalb der akademischen Tradition in der Darstellung des homo vitruvianus , der auf der Grundlage der antiken Proportionslehre des Vitruv gegliederten menschlichen Figur. Eine in der Renaissance entwickelte Darstellungsform zeigt die menschliche Gestalt mit ausgebreiteten Armen in ein Quadrat gesetzt, welches durch eine diagonale Teilung und eine an den Mittelachsen angebundene Raute gegliedert ist.
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Abbildung 8 Cesare Cesariano, homo vitruvianus , 1521.
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Abbildung 9 Villard de Honnecourt, Kopf im Quadratnetz mit mehrfacher Quadrathalbierung.
Die Raute wird durch die Diagonalen in 4 gleich große Rautenfelder geteilt, die in der Körpermitte der Figur zusammentreffen (Abbildung 8.). Sie deckt sich mit der Kompositionsstruktur von Picassos Stilleben aus dem Jahr 1918 und entspricht im übrigen einem in der europäischen Malerei nachweisbaren Kompositionsschema. Es ist hervorzuheben, daß das geometrische Gliederungsschema schon der mittelalterlichen Kunst vertraut war und im Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt - in stärker gegliederter, differenzierterer Form - im Zusammenhang der Proportionsgliederung des menschlichen Kopfes erscheint (Abbildung 9 ).
Bezüglich der von Picasso 1907 entwickelten geometrischen Proportionsfigur sind zwei Merkmale des homo vitruvianus bedeutend: Das mit der Darstellung der Figur verbundene geometrische Schema und die Maßangabe für die Gesamtgestalt des Menschen.
" Den Körper des Menschen hat nämlich die Natur so geformt, daß das Gesicht vom Kinn bis zum oberen Ende der Stirn und dem untersten Rand des Haarschopfes 1/10 beträgt, (...) , der Kopf vom Kinn bis zum höchsten Punkt des Scheitels 1/8, (...)." [9]
Der Kopf als Maßeinheit und die Festlegung von 8 Kopfeinheiten für das Maß der Gesamtkörperlänge ist ein bis in die heutige Zeit tradierter Aspekt aus Vitruvs Kanon und war auch der Akademie der Jahrhundertwende geläufig [10]. Die in Abbildung 8 vorliegende Darstellung der menschlichen Figur nach Vitruv zeigt im Hintergrund ein kleinteiliges, das Gesamtfeld durch 30 teilendes Gitter, welches mit dem oben angeführten Maß des Gesichts (1/10 der Gesamtkörperlänge) korrespondiert. Die Teilung der Gesamtlänge durch 8 - das Maß des Kopfes - findet seine Abbildung in dem auf der Figur liegenden Gliederungssystem aus Viereck, Raute und Diagonalen, und über die darin fortzusetzende Quadrathalbierung (Abbildung 10). Die mittelalterliche Darstellung des Villard de Honnecourt gibt die Anleitung zur weiterführenden Gliederung des Systems. Setzt man nach Art dieser Vorgabe die Teilung der geometrischen Figur bis zur Teilung der Gesamtlänge in 8 gleiche Abstände fort, ergibt sich das in Abbildung 11 dargestellte Netz.
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Abbildung 10
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Abbildung 11
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Abbildung 12.1
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Abbildung 12.2
Verfolgt man in der Gegenüberstellung, vom Kopf als Maßeinheit ausgehend, die Linienzüge und Überschneidungen der Rautenfigur Picassos in der auf diese Weise gegliederten Darstellung des Vitruvschen Menschen, läßt sich die geometrische Figur exakt wiederfinden (Abbildung 12). Der bei Picasso zu erkennende Rhythmus der Überschneidungen in der oberen Körperhälfte - er teilt die Rautenseiten durch 3 - findet seine genaue Abbildung in der erweiterten geometrischen Figur des akademischen Schemas. Ebenso begründet sich der Wechsel in der unteren Hälfte des Körpers, wo die Rauten nur aneinanderstoßen, durch die aus der Teilung durch 8 entstehenden Formen. Picassos Figur entspricht daher mit einem Körpermaß von 8 Kopflängen dem Proportionskanon Vitruvs, wobei zu berücksichtigen ist, daß diese Maßverhältnisse in einer freihand ausgeführten Zeichnung entwickelt sind.
Aufgrund der beobachteten Aspekte läßt sich zusammenfassend feststellen: Picassos geometrische Figur von 1907 folgt mit ihren Rautenformen dem bei Vitruv begründeten Idealschema der Gliederung des menschlichen Körpers in 8 Kopflängen. Ihre Formensprache begründet sich aus der Teilung einer im Zusammenhang des Vitruvschen Kanon, aber auch als akademische Kompositionsfigur, beispielsweise im Bereich der Landschaftsmalerei, tradierten geometrischen Figur.
Voraussetzung dieser These ist die bildnerische Auseinandersetzung Picassos mit den von Vitruv für die ideale menschliche Gestalt angegebenen Maßen. Die Figur in der, von Spies in die Nähe Dürers gerückten, kleinteilig horizontal gegliederten Proportionsstudie (Abbildung 13) entspricht in ihrer stilisierten Gestalt und Haltung dem "geometrischen Akt". Die Gliederung aber weicht vom Schema einer Teilung durch 8 ab. Der Text Vitruvs allerdings nennt weitere Maße.
" Den Körper des Menschen hat nämlich die Natur so geformt, daß das Gesicht vom Kinn bis zum oberen Ende der Stirn und dem untersten Rand des Haarschopfes 1/10 beträgt, (...)." [11]
In der Darstellung des homo vitruvianus nach Cesariano zeigt sich das Gesamtmaß von 10 für den menschlichen Körper in der senkrecht-waagrechten Teilung des Hintergrundes. In der gleichmäßigen Teilung durch 30 horizontale und vertikale Abschnitte ist jeder 3. Abschnitt durch Knoten im Gitter hervorgehoben, wodurch die Zahl 10 in der Teilung der Gesamtlänge und Breite veranschaulicht wird
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Abbildung 13.1
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Abbildung 13.2
Picassos Proportionsfigur von 1907 weist im Zusammenspiel der durch Zahlen und Buchstaben bezeichneten Abschnitte auf der linken Seite eine entsprechende Teilung der Gesamtkörperlänge durch 10 auf. Die freihand gezogenen, relativ gleichmäßigen Teilungsabschnitte sind abwechselnd durch Buchstaben und Ziffern gekennzeichnet, wobei jedoch in der Kennzeichnung Unregelmäßigkeiten festzustellen sind. Die Buchstabenfolge überspringt das E des Alphabets und beginnt mit der Kennzeichnung erst bei der dritten Abschnittslinie von oben, anstelle der ersten. Dieser Unregelmäßigkeit der Buchstabenbezeichnung folgt die Numerierung, indem die Zwischenabschnitte, von A ausgehend, nach unten numeriert werden, so daß der mit 5 bezeichnete Teilungsabschnitt in der Höhe des Mundes liegt. Auf mögliche, aus der Unregelmäßigkeit der Bezeichnungen resultierende Spekulationen soll verzichtet werden. Es wird lediglich festgestellt, daß die durch Zahlen und Buchstaben bezeichneten Linien die Gesamtfigur, entsprechend den Maßangaben bei Vitruv, durch 10 teilen (Vgl.Abbildung 14).
Die aus der 10-Teilung resultierenden Abschnitte sind in sich wiederum geteilt, und zwar bei sieben der Abschnitte gleichmäßig durch 4. Die drei verbleibenden Abschnitte weisen entsprechende Lücken auf, in die unschwer eine gleichmäßige 4-Teilung eingesetzt werden kann. In der vorliegenden Abbildung sind dies die vom Verfasser mit E gekennzeichneten, zusätzlich eingefügten Ergänzungslinien. Das Konzept für die Proportionsstudie aus dem Jahr 1907 geht offenbar von einer Teilung der Gesamtlänge in 40 Abschnitte aus. Die Teilung durch 40 weicht von der 30-teiligen akademischen Darstellung des homo vitruvianus ab, ist aber dadurch erklärbar, daß in 40 Einzelsegmenten sowohl die Teilung durch 10, als auch die Teilung durch 8 - das Maß der Kopflänge - erfaßt werden kann. Die Entscheidung des Künstlers mag aus dieser Überlegung begründet sein.
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Abbildung 14.1 Picassos Proportionsstudie mit verstärkter Hervorhebung der 10-Teilung. Die mit E gekennzeichneten Linien sind Ergänzungen zur regelmäßigen 4-Teilung.
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Abbildung 14.2. Homo Vitruvianus mit verstärkter Hervorhebung der 10 -Teilung. Auf der linken Seite die Bezeichnung durch Buchstaben und Zahlen entsprechend der Proportionsstudie Picassos.
Auf der rechten Seite weist Picassos Proportionsstudie von 1907 eine weitere, mit X gekennzeichnete Teilung in 3 Abschnitte auf. Das Maß einer Teilung durch 6 und entsprechend durch 3 findet sich schon im Text Vitruvs und wird im 30-teiligen Quadratnetz des homo vitruvianus abgebildet.
Das Körpermaß beträgt " (...) von dem oberen Ende der Brust mit dem untersten Ende des Nackens bis zu dem untersten Haaransatz 1/6, (...). Vom unteren Teil des Kinns aber bis zu den Nasenlöchern ist der dritte Teil der Länge des Gesichts selbst, ebensoviel die Nase von den Nasenlöchern bis zur Mitte der Linie der Augenbrauen. Von dieser Linie bis zum Haaransatz wird die Stirn gebildet, ebenfalls 1/3. Der Fuß aber ist 1/6 der Körperhöhe (...)." [12]
Zwar finden sich die angegebenen Maße nicht in Picassos Figur, wesentlich ist aber, daß die Darstellung der akademischen Proportionsfigur mit dem Maß einer Teilung durch 3 und 6 verbunden ist. Man darf ohnehin vermuten, daß sich Picasso weniger mit dem Originaltext Vitruvs, als vielmehr mit einer auf seinen Angaben beruhenden Idealfigur und deren Regelwerk beschäftigt hat. Es ist jedenfalls festzustellen, daß die Dreiteilung der Figur, die sich bei Picasso findet, auch im 30-teiligen Rasternetz des homo vitruvianus markiert werden kann (Abbildung 15). Die Teilung durch 3 besitzt für Picassos Gliederung eine besondere Bedeutung, indem wesentliche Körperpunkte - Knie, Taille, Ellbogen - mit ihr in Übereinstimmung gebracht werden. Hier im besonderen weicht Picassos Figur deutlich vom homo vitruvianus ab.
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Abbildung 15.1 Picassos Proportionsstudie mit verstärkter Hervorhebung der 3-Teilung durch X.
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Abbildung 15.2 Homo Vitruvianus mit verstärkter Hervorhebung der 3-Teilung. Bezeichnung durch X nach Picasso.
Während im Rahmen der akademischen Idealfigur eine Drei- oder Sechsteilung ohne weiteres abgebildet werden kann, entstehen für Picasso Probleme, da seine Gliederung in 40 waagrechte Abschnitte nicht glatt durch 3 teilbar ist. Er löst das Problem ganz einfach, indem er von einer absolut gleichmäßigen Teilung abgeht und die beiden unteren Abschnitte jeweils mit 13,5 Segmenten ansetzt, den oberen Abschnitt nur mit 13. Die mit X markierte Teilungslinie am Knie teilt folgerichtig ein Segment der angenommenen 40-teiligen Gliederung.
Picassos Abweichung scheint zunächst die eben gezogene Verbindung mit der akademischen Idealfigur wieder in Frage zu stellen. Es existiert allerdings eine weitere Proportionsstudie des Jahres 1907, die eine ähnliche, dem homo vitruvianus aber entsprechende Teilung durch 3 aufweist. Die Gesamtlänge der rechten Figur in Abbildung 16 ist auf der linken Seite in drei Abschnitte geteilt, die Teilungspunkte sind mit B, C und D markiert. Vergleicht man die durch die Dreiteilung markierten Abschnitte beider Figuren, so ist festzustellen, daß, abgesehen von Standfläche und Scheitelhöhe, verschiedene Körperpunkte von den Teilungslinien berührt werden. Während in der kleingliedrigen Studie die Teilungslinien auf markante Körperpunkte wie Taille/Ellbogen und Knie treffen, beziehen sie sich im anderen Fall auf anatomisch nicht besonders hervorgehobene Stellen. Es äußert sich aber bereits die Absicht des Künstlers, denn eine Linie der vierteiligen Gliederung auf der rechten Seite bezieht sich auf die Knie, eine Zusatzlinie markiert Taille und Ellbogen.
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Abbildung 16.1
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Abbildung 16.2 Akt mit Proportionsteilung, 1907.
Der Vergleich der vorliegenden, zweiten Proportionsstudie Picassos zeigt eine genaue Übereinstimmung mit den Maßverhältnissen der Figur nach Vitruv. Die Teilungslinien B und C markieren die gleichen über Knie und Taille liegenden Körperstellen, so daß in dieser Zeichnung ein Indiz für Picassos Kenntnis der akademischen Proportionsfigur gesehen werden kann (Abbildung 17).
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Abbildung 17.1. Homo Vitruvianus mit verstärkter Hervorhebung der 3-Teilung .Bezeichnung B,C,D entsprechend der Figur Picassos.
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Abbildung 17.2.
Vergleicht man beide Proportionsstudien, verweist eine auf die genaue Auseinandersetzung mit den Maßvorgaben der Figur nach Vitruv, die andere markiert die bewußte Entscheidung des Künstlers, abweichend vom gegebenen Schema, prägnante Körperpunkte mit der geometrischen Gliederung in Übereinstimmung zu bringen. Nachdrücklicher als beim akademischen Ideal bestimmt die Zahl die Form der menschlichen Gestalt und weist in die Richtung zunehmender Geometrisierung. Man kann in der zuerst genannten Zeichnung daher die zeitlich frühere sehen, denn in der horizontalen Markierung der wichtigen Punkte Ellbogen, Taille und Knie äußert sich bereits die dargestellte Absicht, die Dreigliederung aber entspricht noch der akademischen Figur. Daß der Aspekt des Zusammenfallens markanter Körperstellen mit den Maßvorgaben einer regelmäßigen Teilung den Künstler beschäftigt, dokumentiert eine weitere Zeichnung aus dem Kreis der Proportionsstudien von 1907 (Abbildung 18). Die Position der Knie variiert bei dieser Figur genau in der Differenz, die in der Abweichung der verglichenen Proportionsstudien vorgegeben ist. Ein ähnlicher entschiedener Bezug von Zahlenmaß und Anatomie, der zur Änderung gegenüber der akademischen Figur führt, liegt im übrigen in der Verbindung der Brustmuskulatur mit dem zweiten Abschnitt der Teilung durch 10 vor.
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Abbildung 18 Aktstudie,1907.
Zusammenfassend kann man feststellen, daß Picasso sich 1907 im Umkreis der "Demoiselles d'Avignon mit den Maßvorgaben einer akademischen, auf Vitruv beruhenden Proportionsfigur auseinandersetzt. Das aus der Proportionslehre abgeleitete geometrische Schema bildet den Ausgangspunkt weiterer Formentwicklungen. Picasso setzt den traditionellen akademischen Ansatz fort, indem er, in der Weiterführung über ihn hinausgehend, markante Punkte der menschlichen Anatomie auf die Maßvorgaben bezieht und bemüht ist Körpergliederung und geometrische Formensprache zur Deckung zu bringen. Dies geschieht im Zusammenhang mit der iberisch inspirierten Archaik und den klassizistischen Einflüßen der "Rosa Periode". Archaisierende Tendenzen äußern sich in der Vereinfachung und Geometrisierung der menschlichen Gestalt. Die Entwicklung dieser Formen aus einem in der Antike begründeten Proportionskanon allerdings, bindet ihren "Primitivismus" in eine abendländisch klassische Tradition. Diese Feststellung findet sich im Widerspruch zu Meinungen, die in den neuen Formen den radikalen Bruch sehen wollen:
"Zu einem wirklich revolutionären Kunstwerk werden die Demoiselles d'Avignon vor allem durch die Tatsache, daß Picasso sich von den beiden Hauptmerkmalen der europäischen Malerei seit der Renaissance losmachte: der klassischen Norm für die menschliche Gestalt und dem Raum-Illusionismus der Zentralperspektive." [13]
Zumindest die klassische Norm der menschlichen Gestalt, versteht man darunter nicht schlicht "Naturalismus", sondern Maß und Proportion, wird im Umkreis der "Demoiselles" von Picasso zunächst in neuer und radikaler Weise verabsolutiert.
Die neue Formensprache entsteht aus einer geometrischen Figur, über die Picasso schon länger, offenbar durch seine akademische Schulung verfügt. 1902 bereits existiert in einer Zeichnung über dem naturalistischen Motiv "Mutter mit Kind" ein geometrisches System (Abbildung 19.1). Die lineare Gliederung wird allerdings in der Gegenständlichkeit des Bildes kaum wirksam. Ihre Ordnung äußert sich lediglich in der Gesichtsschräge und dem Ellbogen der Mutter, der Schulterschräge des Kindes, der Plazierung des Glases und der zentralen Anordnung der Figurengruppe.
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Abbildung 19.1 "Mutter mit Kind",1902.
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Abbildung 19.2 Kompositionslinien
Abbildung 19.2 zeigt das lineare Gliederungssystem vom gegenständlichen Motiv abgehoben und für sich dargestellt. Verfolgt man die Verbindung und Zusammengehörigkeit der Linien, so lassen sich zwei abstrakte Figuren isolieren, deren Linienzüge im jeweiligen System zwar über Schnittpunkte korrespondieren, untereinander aber fast keinen Zusammenhang entwickeln (Abbildung 20 ). Eine direkte Korrespondenz zwischen den Systemen zeigt sich nur da, wo Linien sich gleichzeitig beiden Ordnungen eingliedern lassen.
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Abbildung 20.1
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Abbildung 20.2
Das lineare System in Abbildung 20.1 enthält Elemente der schon angeführten akademischen Kompositionsfigur, deren Tradition in der europäischen Malerei beispielsweise durch mehrere Landschaftszeichnungen Claude Lorrains belegt ist (Abbildung 21). Ergänzt man vorhandene Elemente spiegelbildlich und führt die senkrechten Achsen bis zum Bildrand, zeichnet sich die Kompositionsfigur deutlich ab (Abbildung 22). Das Gerüst des von Picasso in der Zeichnung von 1902 angelegten Gliederungsschemas ist offensichtlich zu einem Teil durch Auswahl aus dem linearen Formbestand dieser Figur gewonnen. Achsenbildungen zwischen Punkten innerhalb des Systems führen zu linearen Variationen und Erweiterungen.
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Abbildung 21 Claude Lorrain, "Landschaft mit der Landung des Aeneas in Latium", 1673, und Darstellung der Kompositionsfigur.
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Abbildung 22
Auch das zweite in der Zeichnung von 1902 erkennbare lineare System (Abbildung 20.2) weist Verbindungen zu einem älteren Kompositionsschema auf. In einer Stillebenzeichnung von Jan Fijt findet sich eine vergleichbare Figur, welche innerhalb der Vorgabe einer regelmäßigen horizontalen Fünfteilung Diagonalkreuzungen entwickelt [14] (Abbildung 23). Das lineare System in Picassos Zeichnung von 1902 weist eine horizontale Gliederung auf, die, um eine Linie ergänzt, eine Konzeption aus einer Fünfteilung des Bildformates nahe legt (Abbildung 24). Der Ansatz der Diagonallinien findet sich ebenso wie in der Zeichnung des Jan Fijt, wenn auch um 180deg. gedreht.
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Abbildung 23 Jan Fijt, "Jagdbeute", und Darstellung der Kompositionsfigur.
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Abbildung 24
Picasso verfügt schon 1902 über lineare Schemata zur Gliederung einer Bildfläche, die auf ältere Kompositionsfiguren der europäischen Malerei zurückweisen. Bedeutend ist, daß in einem die geometrische Figur vorliegt, in deren Rahmen der Vitruvsche Kanon entwickelt wird. Beide Gliederungen existieren auf der selben Bildfläche relativ unabhängig voneinander und berühren sich lediglich an der gemeinsamen Mittelachse und in den oberen Schnittpunkten der Senkrechten (Abbildung 25.1). Das eine System bezieht sich auf das gesamte Bildfeld, die Diagonalen des Zweiten nur auf 4 Fünftel der Fläche, wobei das letzte Fünftel, der Tisch, unberücksichtigt bleibt. Die
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Abbildung 25.1 und 2
Überlagerung und Verbindung beider Systeme führt zu einer wechselseitigen, aber "geregelten Störung". Sie findet eine Weiterführung, indem Picasso die Kompositionsschemata unvollständig, nur als Auswahl, in seine Flächengliederung übernimmt. In die gleiche Richtung gehen die beiden linearen Erweiterungen innerhalb des erstgenannten Systems (Abbildung 25.2). Es scheint, daß diese Strategien zunächst den Gedanken einer schematischen Gliederung verfolgen, die aber verschoben, verunklärt und zurückgenommen wird, um in eine zwar genau bestimmte, gleichzeitig aber offen formulierte Bildordnung zu führen.
Die Teilung eines Bildfeldes durch geometrische Figuren findet sich wiederholt in Picassos Werk. Ein Paravent vom Winter 1918/19 (Abbildung 26) führt, im dekorativen Bereich, regelrecht exemplarisch mögliche Teilungen einer Fläche vor. Auf 6 Feldern werden 5 Möglichkeiten geometrischer Flächengliederung demonstriert, die, vom Konzept einer Halbierung, bzw. in der Fortsetzung, einer Viertelung des Bildfeldes ausgehend, auf zwei Grundfiguren basieren.
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Abbildung 26 Paravent, Winter 1918/19.
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Abbildung 27 Paravent, Mittlere Felder.
In den folgenden Abbildungen wird für die linear-schematische Darstellung der Gliederungsmöglichkeiten einheitlich eine quadratische Fläche zum Ausgangspunkt genommen. Die einfachste Teilungsmöglichkeit zeigen die beiden Felder in der Mitte. Zwei sich kreuzende Diagonalen - sie sind aus dem oben angeführten Teilungsschema vertraut - gliedern die Fläche gleichmäßig (Abbildung 27).
Das Motiv sich kreuzender Diagonalen erscheint auch im linken oberen Feld, hier aber flächig verbreitert und in beträchtlich erweitertem Zusammenhang. Grundlage der geometrischen Figur ist die Teilung der Randstrecken durch 4, eine Fortsetzung der durch die Diagonalkreuzung entstehenden Halbierung. Die Gliederungsfigur entsteht innerhalb dieser Vorgaben und erweitert das bekannte Grundmotiv von Viereck und eingelagerter Raute. Bemerkenswert ist die realisierte Form, indem sie zum einen linear-transparent, zum anderen flächig-opak, zum dritten durch offen linear markierte Flächen ausgeformt wird. Die freie Anlage der Formen bricht die geometrische Strenge. Eine Versetzung der linearen Achsen hebt die Einzelformen hervor, setzt sie ab und maskiert das geometrische Schema (Abbildung 28). Das gleiche Vorgehen läßt sich im übrigen für alle Flächen des Paravent feststellen.
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Abbildung 28 Paravent, oberes linkes Feld.
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Abbildung 29 Paravent, unteres linkes Feld.
Die Gliederung des linken unteren Feldes basiert auf der eben vorgestellten Teilung, jedoch werden außerhalb der identischen Mittelfigur von Viereck und Raute, über die Verbindung gegebener Schnittpunkte, andere Möglichkeiten der Weiterführung gewählt (Abbildung 29). Beide Felder auf der linken Seite des Wandschirms gehen direkt auf die durch Auswahl und Erweiterung variierte Figur des "klassischen" Kompositionsschemas zurück.
Die Flächenteilungen der rechten Seite dagegen begründen sich aus einer anderen geometrischen Form, die am deutlichsten im unteren Feld zu erkennen ist (Abbildung 30). Die von den Ecken des Bildfeldes zur Mitte geführten, sich kreuzenden Diagonalen erzeugen eine aus zwei sich überschneidenden, gegengerichteten Dreiecken gebildete Figur. Das obere Bildfeld der rechten Seite zeigt eine Variation dieser geometrischen Ausgangsform.
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Abbildung 30 Paravent, rechtes unteres Feld.
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Abbildung 31 2 Grundfiguren geometrischer Flächengliederung.
Die Bemalung des Paravent vom Winter 1918/19 geht zum einen unmittelbar auf das "klassische" Kompositionsschema zurück, und es soll daran erinnert werden, daß das eingangs angeführte, in unmittelbarer zeitlicher Nähe (1918) stehende Stilleben mit "Tabakpäckchen und Pfeife" eine direkte Übersetzung der Kompositionsfigur darstellt. Aber auch die zweite Ausgangsform basiert auf dieser Figur. Sie kann als Ausschnitt aus dem genannten Schema verstanden werden, bzw. als eine aus möglichen Erweiterungen - durch Fortsetzung oder weitere Teilung der Figur - resultierende Durchdringungsform. Sie deckt sich daher mit der zentralen Durchdringungsform der Rauten in der geometrischen Figur von 1907 und ist auf diese Weise in das System einer "klassischen" Definition formaler Harmonie gebunden (Abbildung 32, 1-3). Die Strukturierung des Bildfeldes entspricht der Formensprache der Figur, indem beide den gleichen formalen Grundlagen verpflichtet sind.
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Abbildung 32
Die beschriebenen kompositorischen Strukturen existieren ebenso in den Skizzen zu einem "Stilleben mit Totenschädel" vom 21.2.1946 und erlauben es, in den Kombinations- und Variationsmöglichkeiten der Einzelelemente ein bildnerisches Verhalten Picassos zu verfolgen. Sieht man zunächst von der modifizierten Gestalt aufgrund von Auswahl, Kombinationen und Verschiebung der Proportionen ab, so lassen sich in den Skizzen unschwer die vier bekannten Gliederungselemente finden: nämlich die Teilung des Bildfeldes durch senkrechte und waagrechte Achse, durch Diagonalachsen, durch die Figur zweier gegenläufiger Dreiecke und die "klassische" Figur der Raute im Achsensystem (Abbildung 33).
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Abbildung 33 Grundelemente der Kompositionsgliederung
Zunächst sollen einige Skizzen aus dem bei Zervos in Band 14 unter der Nr.155 verzeichneten Blatt betrachtet werden (Abbildung 34). Am Anfang steht die aus den gegenläufigen Dreiecken gebildete Figur, variiert durch Verschiebung der Dreiecksspitzen aus der Mitte. Die nächste Skizze geht auf die gleiche Form zurück, modifiziert ihre Gestalt allerdings sehr frei. Eine weitere Variante bildet die folgende Figur; sie behält lediglich das stehende Dreieck und kombiniert es mit der Flächenteilung durch diagonale Achsen. Die vierte Skizze übernimmt in freier Anlage nur Teile der Gliederungsfiguren und verselbständigt die auf diese Weise entstehende Form. Eine aus der Entwicklung als Schnittfigur definierte Form erhält Flächencharakter. Für den Umgang Picassos mit den geometrischen Teilungsfiguren kann festgestellt werden, daß er zum einen in freier Weise die Linienführung und Proportionen unter Beibehaltung der Grundgestalt variiert und zum anderen die Möglichkeiten der Kombination mehrerer Gestalten und der Auswahl nutzt. Letzteres konnte bereits bei der linearen Gliederung der Zeichnung "Mutter und Kind" von 1902 festgestellt werden.
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Abbildung 34 Kompositionsskizzen aus Z14-155 und lineare Nachzeichnungen der Grundfigur
Auch an den im folgenden abgebildeten Skizzen aus Z14-154 kann das Gesagte beobachtet werden (Abbildung 35). Darüber hinaus erweitern sie jedoch die Grundfiguren durch Linien, die aus der Verbindung von gegebenen Schnittpunkten entwickelt werden, wobei die einzulagernden Gegenstände auf die Gestaltbildung Einfluß nehmen. Auch die Erweiterung der Kompositionsfigur durch Verbindung von Linienschnittpunkten war bereits in der Zeichnung von 1902 festzustellen. Es entsteht ein in sich verbundenes, die Grundgestalten variierendes Liniensystem. Diese Verfahrensweise erlaubt die Ausdifferenzierung der beschriebenen "klassischen Muster" und deutet die Vorstellung eines in der Methode gewährleisteten "harmonischen Systems" an.
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Abbildung 35 Kompositionsskizzen aus Z14-154 und lineare Nachzeichnungen der Grundfigur
Es stellt sich die Frage, ob vergleichbare kompositorische Grundlagen schon 1907 existieren? Picasso kennt zu dieser Zeit die "klassische" Kompositionsfigur und entwickelt für die menschliche Gestalt eine Formensprache, die sich aus der Geometrie dieser Figur begründet.
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Abbildung 36 Vier Studien zu den "Demoiselles d'Avignon".
Zu den "Demoiselles d'Avignon" gibt es eine große Zahl von vorbereitenden Arbeiten. Bemerkenswert ist, daß nahezu alle Kompositionsskizzen die gleiche Grundgliederung aufweisen und Variationen, sieht man vom figürlichen und gegenständlichen Bereich ab, sich innerhalb der gleichen Großform auf Details der kompositorischen Ordnung erstrecken. Die vier in Abbildung 36 vorgestellten Skizzen präzisieren diese Aussage. Verfolgt man die gliedernden Linien, so zeigen sich die immer gleichen Elemente, lediglich in Richtung, Charakter (d.i. gebogen oder gerade etc.) und Länge variiert. Die Grundform der Kompositionen wird durch zwei stehende, im Bereich der Mitte sich schneidende Dreiecke gebildet und nach rechts durch eine Spitze abgeschlossen. Abbildung 37.1 zeigt eine schematische Darstellung dieser Figur.[15]
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Abbildung 37.1 Kompositorische Grundform
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Abbildung 37.2
Der Aufbau einer mehrfigurigen Komposition über einer Dreiecksform ist nicht ungewöhnlich. Der Akademie des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist diese Praxis durchaus geläufig:
"Während man bei einer kleinen Gruppe vermeiden soll, die Gestalten derselben in regelmäßige geometrische Figuren zu bringen, da diese leicht steif und gesucht wirken, ist man bei figurenreichen Bildern gezwungen, die nötige Klarheit und Übersichtlichkeit durch geometrische Linien zu erzielen."
(...)
" Eine Konsequenz der bei der Komposition einzelner Figuren beliebten Dreieckform ist der Aufbau in der Pyramide, (...)" [16]
Auch Cezanne benutzt das Dreieck in Figurenkompositionen, sehr deutlich ausgeprägt beispielsweise in dem Bild "Fünf Badende" von 1885/87 (Abbildung 38.1). Bei Picasso selbst zeigt die linke Gruppe von 3 Frauen in "Der Harem" bereits 1906 eine im Dreieck angelegte Ordnung[17]. Die zentrale Figurengruppe in Claude Lorrains "Landschaft mit Wassermühle" von 1648 belegt das Verfahren für die ältere Malerei (Abbildung 38.2) und es ist bemerkenswert, daß mit Lorrain die figürliche Dreieckskomposition in einem Zusammenhang auftaucht, für den die Komposition nach der "klassischen" Figur belegt ist.
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Abbildung 38.1 P.Cezanne, Fünf Badende, 1885-87.
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Abbildung 38.2 C.Lorrain, Landschaft mit Wassermühle, 1648. (Ausschnitt, Zentrale Figurengruppe.)
Die Kompositionsstruktur der "Demoiselles" entspricht zwar nicht der "klassischen" Figur, steht ihr aber nahe und gehört in das gleiche System geometrischer Formen. Dreieck und Rautenfigur entspringen dem nach innen und außen ständig erweiterbaren geometrischen Modell, das die Aktfigur von 1907 demonstriert (Abbildung 37.2.). Ihre Formen definieren sich wechselseitig und bilden einen Kanon, innerhalb dessen die gleichen Modulformen in verschiedenster Proportion vorliegen. Die "Kleinstruktur" des "Geometrischen Aktes" von 1907 deckt sich daher mit der "Großstruktur" einer Gliederung des gesamten Bildfeldes bei den "Demoiselles"(Abbildung 39).
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Abbildung 39
Der vorangegangene Abschnitt zeigte, daß Picasso die geometrischen Formen nicht dogmatisch in seine Bilder übernimmt, sondern von Anfang an über verschiedene Strategien zur Modifikation verfügt Das geschieht auch im vorliegenden Zusammenhang. Die für die Komposition der "Demoiselles d'Avignon gewählte Figur ist nicht absolut symmetrisch, sondern deutet bereits in der Grundgestalt eine verschobene, "offene" Symmetrie an. Im Zusammenhang mit der besonderen Ausführung jeder Einzelskizze, entspricht dies dem schon festgestellten Verhalten Picassos, die geometrischen Strukturen zu variieren, zu erweitern und nicht zuletzt zu verbergen.
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Abbildung 40.1 Studie zu den "Demoiselles d'Avignon.1907.
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Abbildung 40.2
Eine der Kompositionsskizzen zu den "Demoiselles d'Avignon" entspricht nicht dem dargestellten Schema (Abbildung 40.1). Eine große Diagonale teilt das Bild von rechts oben nach links unten, von Eckpunkt zu Eckpunkt. Ihr antwortet eine kürzere Diagonale, die von links oben kommend nicht die untere Ecke des Bildfeldes erreicht, sondern auf einen Punkt am Bildrand zielt, der von der Ecke rund ein Viertel der Gesamtstrecke entfernt ist. Fällt man vom Schnittpunkt beider Diagonalen eine Senkrechte nach unten, erreicht man am unteren Bildrand die Stelle, von der ausgehend eine optische Achse zur rechten oberen Ecke führt. Die gedachte Senkrechte zwischen den Schnittpunkten wird in einer senkrechten Linie des Bildes aufgenommen, die allerdings von den Schnittpunkten nach rechts gerückt ist. Die optische Achse von links unten nach rechts oben liegt als Linie nur bis zu ihrem Schnittpunkt mit der kurzen Diagonalen vor. Abbildung 40.2 veranschaulicht die Gliederung der Bildfläche.
Dieses bildnerische Verhalten steht nicht vereinzelt. Einige Randzeichnungen aus dem Jahr 1940 lassen ein ähnliches Vorgehen erkennen (Abbildung 41, hier in der oberen Reihe die 1.,3. und 4. Skizze von links). Die Gliederungsfigur von 1907 findet sich in diesen Fällen im Hochformat um 90deg. nach links gedreht.
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Abbildung 41 Randzeichnungen um eine Reproduktion von "L'Amitie", 1940.
Zum besseren Vergleich werden die Skizzen in Abbildung 42 nach rechts zurückgekippt, so daß sich das Schema von 1907 seitenverkehrt in den Kompositionsskizzen von 1940 abbildet. Die lange Diagonale durchkreuzt das Bild von links oben nach rechts unten. Die kurze Diagonallinie durchläuft die Fläche von links unten nach rechts oben zu einem Punkt, der im ersten und zweiten Fall zwischen einem Viertel und einem Drittel der Gesamtstrecke vom rechten Bildrand entfernt liegt, im dritten Fall wohl die Mitte meint. Vom Kreuzungspunkt der Diagonalen mit dem Blick senkrecht nach unten gehend, erreicht man am Bildrand den Punkt, von dem aus eine Achse in die linke obere Ecke führt. Im ersten Fall ist, wie in der Skizze von 1907, die Linie nur bis zur kurzen Diagonale geführt, im zweiten und dritten Fall bis in die Ecke durchgezogen. Weitere Linien, die über das Gliederungsschema von 1907 hinausgehen, variieren das lineare System durch das bekannte Verfahren der Verbindung von Schnittpunkten.
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Abbildung 42
Das Nacheinander in der Abhängigkeit der Gliederungslinien erlaubt es, einen Vollzug zu simulieren (Abbildung 43.1-5). Am Anfang steht die Idee einer regelmäßigen Teilung des Bildfeldes, in die eine zunächst absolut symmetrisch zu denkende Gliederungsfigur eingepaßt ist. Die gezielte Störung verschiebt und öffnet die Symmetrie des Ausgangskonzeptes. Sie setzt sich in den Erweiterungen der Ausgangsfigur fort. Diese bewegen sich zunächst im Rahmen der Grundgliederung, beziehen sich in der Fortsetzung aber auch auf neu gebildete Schnittpunkte innerhalb des linearen Systems.
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Abbildung 43.1-5
Die Gliederung einer Bildfläche durch zwei ungleich ausgerichtete und verschieden lange Diagonalen, findet sich auch in einigen der Kompositionsskizzen für ein Stilleben mit Totenschädel vom 21.2.1946 (Abbildung 44). Im Unterschied zu den Zeichnungen von 1907 und 1940 liegt hier eine regelmäßige Vertikalgliederung vor, in der sich der Ansatzpunkt der verkürzten Diagonale genau bestimmen läßt.
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Abbildung 44 Skizzen für ein Stilleben mit Totenschädel,21.2.1946.
Die große Zeichnung links außen (Abbildung 45) zeigt die Diagonalen in eine gleichmäßige Fünfteilung eingebunden, wobei die kurze Diagonale an einen Schnittpunkt des senkrecht-waagrechten Gliederungssystems geknüpft wird. Die zweite Skizze (Abbildung 46) entspricht in ihrem abstrakten Bau völlig der ersten. Ein Vergleich beider macht deutlich wie die Gegenstände, im vorliegenden Fall der Tisch, aus den Modifikationen des abstrakten Gliederungssystem entwickelt werden können. Die formale Definition des Gegenstandes "Tisch" deckt sich mit der kompositorischen Struktur.
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Abbildung 45
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Abbildung 46
Fragt man nach dem Motiv für die Verkürzung einer Teilungsdiagonale, findet man in den Skizzen von 1946 eine Begründung. Die verkürzte Diagonale verbindet sich jeweils mit einer weiteren Linie zur Figur eines stehenden Dreiecks, an dem auch die in die Spitze stoßende Senkrechte - in einer senkrecht-symmetrisch zu denkenden Figur eigentlich die senkrechte Mittelachse - beteiligt ist. Es verschmelzen auf diese Weise zwei selbständige Teilungsfiguren, indem die verkürzte Diagonale gleichzeitig einmal der Diagonalkreuzung zugehört, aber auch eine Seite des Dreiecks bildet. Ausgangspunkt der Verbindung ist die Überlagerung beider Figuren, wie sie als Möglichkeit eine Zeichnung vom Februar 1937 zeigt (Abbildung 47).[18]
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Abbildung 47.1 Die Teilungsfiguren
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Abbildung 47.2 Überlagerung der Teilungsfiguren. "Hockende Frau", 1937.
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Abbildung 47.3 Verbindung. Skizze,1946.
Bei der zweiten Skizze unten links auf dem Blatt von 1946 findet sich die beschriebene Verknüpfung im Verbund mit einer weiteren linearen Figur (Abbildung 48). Nimmt man die erstgenannte Form weg und ergänzt die verbleibenden Diagonallinien spiegelbildlich in der oberen Bildhälfte, erhält man die "klassische" Kompositionsfigur. Die ihr eigentlich zugehörenden Diagonallinien werden durch die modifizierten Diagonalen der Verknüpfungsfigur ersetzt, so daß diese sich über zwei Eckpunkte mit der neuen Figur verbinden. Die Verknüpfung verschiedener, den gleichen geometrischen Grundlagen entstammender Figuren zu einer neuen Gesamtform, erweitert die bildnerischen Strategien Picassos.
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Abbildung 48
In den angeführten Randzeichnungen von 1940 läßt sich das oben beschriebene Motiv für die Verkürzung einer Diagonale finden. Im Unterschied aber zu der Teilungsfigur in den Skizzen von 1946 ist hier das stehende Dreieck nur unvollständig vorhanden, indem ein Teil der senkrechten Achse die rechte Linie ersetzt und die Figur schließt. Diese Modifikation liegt im Bereich des bereits mehrfach für Picassos bildnerisches Verhalten nachgewiesenen Prinzips der Auswahl (Abbildung 49.1). Es sei daran erinnert, daß zum besseren Vergleich mit der Kompositionsskizze von 1907 die Zeichnungen um 90deg. gedreht wurden. Aber auch aus ihrer eigentlichen Richtung betrachtet zeigt sich die Teilungsfigur, die aus der Verbindung von Diagonale, Dreieck und senkrechter Achse gebildet wird, so daß sich in dieser Kompositionsgliederung eine ähnliche Figur, um jeweils 90deg. gedreht spiegelt (Abbildung 49.2).
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Abbildung 49 Ausschnitte aus den Randzeichnungen von 1940
Als bildnerische Strategien in der Anwendung und Variation geometrischer Gliederungsfiguren lassen sich Verschiebungen, Auswahl, Kombinationen und die weiterführende Differenzierung über die Verbindung gegebener Schnittpunkte feststellen. In welchem Maß diese bildnerischen Strategien bereits 1907 existieren, läßt sich aus den wenigen Linien der Skizze jenes Jahres nicht erschließen. Es ist jedoch zu bedenken, daß die Figur zweier sich schneidender Dreiecke die übrigen Kompositionsstudien zum Bild der "Demoiselles d'Avignon" prägt. Daher darf angenommen werden, daß in der vorliegenden Skizze Überlegungen zur Verbindung einer Diagonalteilung des Bildfeldes mit der "Dreiecksfigur" vorliegen. Die Tatsache, daß in einzelnen Skizzen zu den "Demoiselles" die Ecken des Bildfeldes zu Bezugspunkten gliedernder Linien werden, erklärt sich möglicherweise bereits aus dem Bestreben verschiedene Teilungsschemata zu verbinden und eines durch das andere zu modifizieren. Es bleibt jedenfalls festzustellen, daß schon 1907 kompositorische Strukturen und Ansätze bildnerischer Strategien vorliegen, die in der Fortsetzung und Entwicklung im späteren Werk, eine Kontinuität im bildnerischen Verhalten Picassos betonen.
1940 überzeichnet Picasso eine Reproduktion des Bildes "Mère et enfant" von 1922 (Abbildung 50 ).
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Abbildung 50 Geometrische Überzeichnung einer Reproduktion von "Mere et enfant",1940.
Das lineare Gerüst der geometrischen Figur korrespondiert zwar stellenweise mit der figürlichen Darstellung, folgt aber in der Verbindung der Linienzüge einer eigenen Gesetzlichkeit. Die Verbindung über Schnittpunkte ermöglicht einen Einblick in die Abfolge der Linienzüge, indem jede neue Linie sich aus dem schon Bestehenden ergeben muß, so daß nur der Anfang nicht eindeutig aus diesem Zusammenhang definiert ist. Jedoch läßt sich in der Überzeichnung von "Mère et enfant" eine Figur ausmachen, die aus den eben erläuterten Elementen besteht und daher als Grundlage der geometrischen Variationen angesehen werden darf.
In reiner Form liegt die Ausgangsfigur in der schon angeführten Zeichnung "Hockende Frau" von 1937 vor (Abbildung 47.2). Ihre Gliederung durch zwei Diagonalen, ein Dreieck und eine senkrechte Achse findet sich in der Überzeichnung der Reproduktion und bildet daher den Ausgangspunkt der geometrischen Konstruktion (Abbildung 51, 1.Reihe). Es ist zu bemerken, daß bereits die Ausgangsform variiert ist, indem eine Bilddiagonale nicht bis zum rechten unteren Eckpunkt geführt wurde und so der Schnittpunkt der Diagonalen nicht mit der Mittelachse zusammenfällt. Von Anfang an zeigt sich die Absicht eine geometrische Figur zwar als ordnendes Element der Flächenorganisation einzusetzen, ihre bildnerische Monotonie aber, in vertrauter Weise, durch Verschiebung und Variation zu lösen. Von der Grundfigur ausgehend wird, der Abhängigkeit der Linien folgend, durch Schnittpunktverbindungen die lineare Konstruktion entwickelt (Abbildung 51). Selbstverständlich kann dabei die Reihenfolge des dargestellten Verlaufs an einigen Stellen zunächst diskutiert werden.
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Abbildung 51 Die Entwicklung der geometrischen Konstruktion.
Berücksichtigt man allerdings die Gestaltbildungen in den in ähnlicher Weise entwickelten Kompositionsvarianten des "Stilleben mit Totenschädel" vom 21.Februar 1946 (besonders Abbildung 34) wird der vorliegende Verlauf begründet. Abbildung 52 demonstriert ein systematisches Vorgehen in der Entwicklung und Variation geometrischer Gestalten über die Verbindung gegebener Punkte. Auf das stehende Dreieck der Grundfigur folgt die gegengerichtete Variante, darauf eine gekippte Variante der Ausgangsform, dieser wiederum antwortet eine entsprechend gegengerichtete und gekippte Figur.
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Abbildung 52 Die Gestaltbildungen im Verlauf der geometrischen Konstruktion.
Man kann zusammenfassend feststellen, daß Picasso die geometrische Kompositionsgliederung über Grundgestalten entwickelt. Die Absicht ein ungleichmäßiges und doch geregeltes Ganzes zu schaffen, äußert sich in Gegensatz und Variation der dem Grundschema zugehörenden Dreiecksform, deren Gestalt die Folge der Linienzüge bestimmt. Die weitere Differenzierung, in anderen Fällen direkt in Richtung der Bildgegenstände, bewegt sich über die Bildung von Schnittpunktverbindungen innerhalb des Systems. Diese Vorgehensweise ermöglicht eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten, erhält aber gleichzeitig den Zusammenhang und eine Ordnung der so gebildeten linearen Figur. Der schon angeführte Gedanke eines über Regeln systematisch zu erzeugenden bildnerischen Gleichgewichts, eines "harmonischen Systems" ist in dieser Vorgehensweise enthalten.
Das beschriebene Verhalten äußert sich in unterschiedlichen motivischen Zusammenhängen. Es war sowohl in den dekorativen Formen des Paravent, in Stillebenkompositionen und im Zusammenhang des Figurenbildes festzustellen. Ergänzend sollen zwei Zeichnungen angeführt werden, bei denen die geometrischen Formen auf eine Innenraumdarstellung bezogen Anwendung finden. In einigen auf den 1.September 1941 datierten Zeichnungen gliedern sie das Sujet einer räumlichen Situation mit Gegenständen (Abbildung 53). Im linken Bild sind zwei der festgestellten geometrischen Teilungsformen überlagert, in der rechten Skizze kommt die Diagonalkreuzung der Gesamtfläche hinzu. Im Vergleich zu den geometrisch reinen konzeptuellen Ausgangsformen lassen sich Erweiterungen und erhebliche, durch die Freihandzeichnung offensichtlich bewußt hervorgerufene Abweichungen feststellen, die allerdings dem festgestellten Vorgehen einer Modifikation der Geometrie durch freihand gezogene Linien, Verschiebung der Proportionen, Versetzung, Erweiterung etc. entsprechen.
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Abbildung 53 Zwei Studien zu einem Innenraum und Darstellung der Kompositionsfiguren.
Es äußert sich in dieser prinzipiellen Unabhängigkeit vom jeweiligen Bildgegenstand eine übergeordnete Wertigkeit der geometrischen Strukturen. Wird dieser Aspekt nicht erkannt, ergeben sich problematische Deutungen, wie beispielsweise im Fall der Räume von 1941:
"Die Tiefe des Raumes wird in die Bahnen komplementärer Perspektiven gelenkt und wird labil. So wie ein Kind beim Fadenspiel den am weitesten entfernten Faden um den Finger schlingt und heranholt, so werden die Seitenlinien, die diese Räume abgrenzen, einer ständigen Umkehrung unterworfen. Eine Verklammerung zurückweichender Fluchtpunkte, die aber von nahen und entfernten Positionen gleichzeitig "zurückweichen"; (...)." [19]
Berücksichtigt man den oben skizzierten Charakter der geometrischen Gliederungsformen, so verbietet sich diese Deutung, die in der linearen Struktur eine Durchkreuzung konventioneller Fluchtlinien sieht, und daraus die - auch für den Gegenstand vertretene - These, die kubistische Bildsprache sei die simple Vervielfachung verschiedener Ansichten ableiten will[20]. Zwar definieren, durch die Integration des Raumes und der Gegenstände in die Kompositionsfigur, die Linienzüge "Raum", bilden ihn aber nicht simultan von verschiedenen Blickpunkten gesehen ab, da sie nicht aus einem perspektivischen, dem Ansichtsbild verhafteten System entstanden sind. Vielmehr wird "Raum" innerhalb einer flächigen Ordnung repräsentiert.
In der Überzeichnung der Reproduktion von "Mère et enfant" wird im Jahr 1940 eine Komposition von 1922 mit einem geometrischen Schema verbunden. Obwohl im Original des Figurenbildes keine Anhaltspunkte für ein Kompositionsschema dieser Art zu finden sind, stellt sich, dem Gedanken der Kontinuität folgend, die Frage, ob nicht der Künstler bereits zu dieser Zeit mit den geometrischen Grundfiguren und der dargestellten Methode der Kompositionsentwicklung vertraut war.
Ein kleines Stilleben "Bouquet" weist die geometrische Grundfigur der sich durchdringenden Dreiecke für das Jahr 1922 nach (Abbildung 54). Von links und rechts kommend entsteht aus ihrer Durchdringung die Grundform der Blüte. Sie wird erweitert durch Diagonallinien, die aus einer Verbindung der Durchdringungsschnittpunkte resultieren, sowie durch eine senkrechte Achse. In der Erweiterung durch die Diagonallinien äußert sich jene, aus einer fortgesetzten Diagonalteilung und Verschränkung resultierende Beziehung zwischen Raute und Dreieck, die in Abbildung 39 dargestellt wurde. Eine Modifikation der Proportionen und die Verschiebung der senkrechten Achse nach links variiert die geometrische Form in gewohnter Weise (Abbildung 55).
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Abbildung 54 "Bouquet", 1922.
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Abbildung 55 Entwicklung der Blüte aus der geometrischen Grundfigur.
Eine der Methode von 1940 vergleichbare Entwicklung der Komposition über Linienschnittpunkte scheint bei einer Zeichnung von 1920 vorzuliegen. Zwar datiert Zervos diese Zeichnung auf 1915, doch gehört sie als direkter Entwurf einer Gouache vom 13.März 1920 in dieses Jahr[21] (Abbildung 56.). Setzt man voraus, daß die ersten Linien durchgehend und Unterbrechungen auf bereits existierende Linien zurückzuführen sind, berücksichtigt man zweitens die 1922 nachweisbare Grundfigur der sich durchdringenden Dreiecke und die Art ihrer Variation in den Kompositionsskizzen der vierziger Jahre, so läßt sich für den Entwurf von 1920 ein vergleichbarer Ansatz rekonstruieren.
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Abbildung 56 Zeichnung und Gouache "Compotier et mandoline sur un buffet",1920.
Abbildung 57 zeigt als möglichen Ausgangspunkt die Grundfigur, von der die Komposition über Schnittpunktverbindungen in Richtung der einzulagernden Gegenstände entwickelt werden kann. Das postulierte Vorgehen entspricht der in den Entwürfen von 1946 festgestellten Verfahrensweise. Die Beziehung von Flächengliederung und Gegenstandsrepräsentation wird deutlich: Die Gestalt der Gegenstände entsteht in der fortlaufenden Differenzierung der Grundfiguren aus der Gesetzlichkeit der Flächengliederung. Die Gegenstände werden, als ein zunächst "störendes" Element, in die durch sie modifizierte Ordnung integriert. Gegenstandsgestalt und Flächenordnung gelangen zur Synthese.
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Abbildung 57 Konstruktion der Grundfigur in der Zeichnung Abbildung 58.
Die Entwicklung einer gemeinsamen geometrischen Ordnung für die menschliche Gestalt und die Gliederung der Bildfläche ließ schon 1907 die Absicht erkennen, "Klein"- und "Großstruktur" zur Deckung zu bringen, um die Synthese von Gegenstandsrepräsentation und Bildordnung herbeizuführen. Die Beispiele der Jahre 1920 und 1922 zeigen, daß die in Skizzen und Zeichnungen der vierziger Jahre festgestellten geometrischen Figuren und Methoden auch zu dieser Zeit die Gestalt der Komposition und die Gegenstandsformulierungen beeinflußt haben. Sie verweisen in der Verbindung mit den geometrischen Flächenteilungen des Paravent vom Winter 1918/19 auf die Kontinuität des geometrischen Konzeptes. Die Feststellung prinzipiell einfacher, aber erweiterungsfähiger und kombinierbarer bildnerischer Mittel deckt sich mit Aussagen Picassos:
"(...) wenn du dich dazu zwingst, dich in deinen Mitteln zu beschränken, wird gerade dadurch deine Erfindungskraft freigesetzt. Das führt dich zu Fortschritten, von denen du dir im voraus keine Vorstellung machen kannst." [22]
Gleichzeitig aber entzieht sich der Künstler dem Dogma einer gesetzmäßigen Definition von Kunst und der Gefahr von Monotonie und Starre. Mit den dargestellten bildnerischen Verhaltensweisen zielt Picasso auf Modifikation, Störung und Maskierung der formalem Regelhaftigkeit. Er beugt und bricht die Regel und gewinnt daraus ein kreatives Potential. Ein im gleichen Maß bildnerisch fruchtbarer "Störfaktor" ist die Gegenständlichkeit, so daß trotz eines systematischen Ansatzes ein Bild nicht von vornherein berechenbar ist.
"(...) das hinderte nicht, daß alle Schwachköpfe alsbald Gesetze und Regeln entdecken wollten und mir selber zu erklären versuchten, wie man malen müsse, wo doch für mich jedes Bild nicht ein Ende, nicht ein erreichtes Ziel, sondern ein glückliches Ereignis, eine Erfahrung ist. (...). Es handelt sich nicht darum, zur Geometrie der Gelehrten zurückzukehren." [23]
In nur wenigen Beispielen, vergleicht man den Umfang des Gesamtwerkes, ließ sich das formale Konzept bei Picasso verfolgen. Die erstaunliche Kontinuität des Formprinzips allerdings gibt ihm Bedeutung und läßt vermuten, daß es als verborgene Struktur in weitaus größerem Maß das Werk durchzieht. Es sei nur die Gruppe von Stilleben um die Gouache von 1920 angeführt. Die Vermutung einer einheitlichen formalen Struktur äußern, aufgrund der Oberflächenstruktur der Bilder, auch andere Autoren. So schreibt Franz Mosele, sich auf Kahnweiler beziehend, schon 1973 im Zusammenhang der Werke von 1909:
" Anstatt von einem angenommenen Vordergrunde auszugehen und von diesem aus durch perspektivische Mittel eine scheinbare Tiefe vorzutäuschen, geht der Maler von einem festgelegten flächengeometrischen Kompositionsplan aus. Von diesem ausgehend, arbeitet nun der Maler auf die Figur hin, in einer Art Formenschema in welchem die Lage jedes Körperteils deutlich dargestellt ist durch seine formale Übereinstimmung einerseits oder Kontrastierung andererseits mit dem Kompositionsplan und den je anliegenden Formen." [24]
Eine genaue Beschreibung oder Definition des "flächengeometrischen Kompositionsplanes" gibt Mosele allerdings nicht. In unserem Zusammenhang stellt sich die Frage, in welcher Weise im Fall der figürlichen Darstellung des Jahres 1907 die "formale Übereinstimmung (...) mit dem Kompositionsplan" angestrebt wird.
Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich durchaus einseitig auf formale Aspekte und Motive, wobei jedoch keineswegs beabsichtigt ist, das Werk auf diese Dimension als die allein gültige zu reduzieren. Andere Betrachtungsweisen und Untersuchungsansätze bleiben zwar unberücksichtigt, wodurch aber nicht ihre Relevanz innerhalb der Mehrdimensionalität des Kunstwerks in Frage gestellt werden soll. Ihre Bedeutung für Interpretation und Verständnis ist zu betonen.
Es ließ sich zeigen, daß die Rautenstruktur der geometrischen Proportionsfigur von 1907 den Gliederungsfiguren der Bildfläche entspricht, wodurch die Möglichkeit einer formalen Übereinstimmung von Kompositionsgliederung und Bildgegenstand entsteht. In den Skizzenbüchern des Jahres 1907 läßt sich die Fortführung dieser geometrischen Formen und ihre Durchsetzung für die Bildung der menschlichen Gestalt verfolgen.[25] Dabei bewegen sich die Skizzen ständig im Spannungsfeld zwischen geometrischer und naturalistischer Form, d.h. die Körperform wird im Sinne des "Systems" geometrisiert, die geometrische Form findet sich dem Naturvorbild angenähert.
Der Einfluß der geometrischen Form zeigt sich deutlich in den Überschneidungsformen dreier Studien für eine weiblichen Figur in einem Skizzenbuch, datiert auf den März 1907 (Abbildung 58). Die Gliederung der Torsi entspricht der Linienführung der durch Rauten strukturierten Proportionsfigur. Während dort aber abstraktes geometrisches System und naturalistische Körperform eindeutig zu trennen sind, liegt in den drei Körperstudien eine Durchdringung beider Komponenten vor, indem sich die aus der geometrischen Figur ausgewählten Elemente mit der Anatomie überdecken und überdies in weicherer Linienführung der Körperform angenähert werden.
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Abbildung 58.1 3 Studien zu einer weiblichen Figur, 1907.
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Abbildung 58.2 Körperlinien aus dem Rautensystem.
In den Torsi konzentriert sich die geometrische Linienführung auf die Leibesmitte. Auch bei weiteren Figurenstudien prägt sich die geometrische Form vorrangig in der Bildung des Rumpfes aus, so bei zwei Figuren aus einem Skizzenbuch vom Spätsommer und Herbst 1907 (Abbildung 59). Ihr Vergleich veranschaulicht Picassos bildnerische Verhaltensweise in der Projektion eines geometrischen Schemas auf die Figur. Zum einen besitzt er Wahlmöglichkeiten innerhalb des formalen Angebots, die er je nach Darstellungsintention nutzt. Zum anderen bieten sich Möglichkeiten der Erweiterung, wie sie in den beiden Skizzen beispielsweise in der horizontalen Verbindung der Durchdringungsschnittpunkte am Bauch vorliegen. Deutlich zeigt sich, daß im Rumpf der Figuren ein geometrisches Konzept seine Ausformung findet und keine Stilisierung, keine schlichte Vereinfachung der Naturform vorliegt.
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Abbildung 59 Zwei Figurenstudien, 1907.
Auch bei weiteren Figurenstudien darf angenommen werden, daß die Formen des Rumpfes, die scharfe Akzentuierung der Taille und die Spitze der Hüfte, auf die dargestellten bildnerischen Überlegungen rückführbar sind. Eine stärkere Ausprägung der naturalistischen Körperform zeigt die Darstellung eines weiblichen Aktes im Skizzenbuch von Juni/Juli 1907 (Abbildung 60) .Die Figur verweist zwar in der Bildung des Rumpfes deutlich auf die oben dargestellten formalen Grundlagen. Entsprechend der Körperform und der Haltung aber sind die geometrischen Geraden abgewandelt und zum Teil in gekurvte Linien überführt, wodurch die Gesamtform eine rhythmische Akzentuierung erfährt.
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Abbildung 60 Figurenstudie, 1907.
Die "geometrische Proportionsfigur" deutet in der Fortführung der Rautenschrägen über die Körperbreite hinaus die Möglichkeit einer Erweiterung an. Eine Zeichnung aus dem Skizzenbuch vom Juni/Juli 1907 gibt ein Beispiel für die Fortführung des geometrischen Konzeptes in der Haltung der Figur (Abbildung 61). Sie steht in engem Zusammenhang mit der schon vorgestellten Figur des gleichen Skizzenbuchs (Abbildung 60). Besser als bei dieser läßt sich erkennen, wie die Stellung der Arme mit einer Erweiterung der den Rumpf formenden geometrischen Struktur korrespondiert, so daß sich in der Haltung der Figur das geometrische System abbilden und fortsetzen kann.
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Abbildung 61.1 Figurenstudie, 1907.
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Abbildung 61.2 Geometrische Form in 63.1.
Es zeigt sich, daß Picasso das geometrische Konzept nicht dogmatisch vertritt, sondern aus der Auseinandersetzung zwischen abstrakter und naturalistischer Form Anregung schöpft. Das bildnerische Problem besteht darin, Volumen und lebendige Kontur der menschlichen Gestalt in einer flächigen Ordnung überzeugend zu repräsentieren, wodurch 1907 eine ständige Bewegung zwischen dem geometrischen Konzept und einem Naturvorbild resultiert. Wesentlich ist dabei, daß es von Anfang an um mehr als eine bloße Stilisierung, etwa mit der Absicht gesteigerter Expressivität geht, sondern daß Picasso Schritte in Richtung einer konzeptuellen Repräsentation der Gegenstandswelt unternimmt.
Wie die "Methode" der kompositorischen Gliederung findet auch die geometrische Formensprache für die Figur - hier sei an den "Mann mit Stab" von 1972 erinnert - eine Fortführung und Entwicklung im Werk Picassos. Zwei Beispiele sollen angeführt werden. Eine frontal stehende weibliche Figur von 1946 (Abbildung 62) läßt unschwer die direkte Verbindung zur Formensprache der geometrischen Figur von 1907 erkennen. Trotz der erheblich freieren Ausführung bleibt als wesentlicher Aspekt der Aufbau der Figur aus einer Folge sich durchdringender Rauten erhalten.
Stärkste Vereinfachung der bildnerischen Sprache liegt im zweiten, auf das Jahr 1956 datierten Beispiel vor (Abbildung 63). Die Figuren reduzieren sich auf die zentrale geometrische Durchdringungsform und einfachste Bezeichnungen für Füße, Hände und Kopf.
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Abbildung 62 Linke Figur aus "Akte frontal und im Profil", 2.8.1946.
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Abbildung 63 "Zwei Personen" 18.4.1956.
Am Beispiel der Figurenstudie Abbildung 61 wurde bereits die Möglichkeit der Erweiterung des geometrischen Systems gezeigt. Gleichzeitig beobachtet man die Lockerung der geometrischen Starre, eine gelöste skizzierende Bewegung in den formalen Vorgaben der Geometrie, begründet aus der Wechselbeziehung mit der Körperform. Eine Variante dieser Figurenstudie und die Verfolgung ihrer Linienzüge in einem erweiterten System der "Rautenfigur", verdeutlicht diesen Sachverhalt, indem für die ganze Figur - und zwar für die Bildung ihrer Formen und die eingenommene Haltung - eine Anregung aus den geometrischen Formen gesehen werden kann (Abbildung 64).
Der Einfluß der geometrischen Formensprache läßt sich auch an einer weiteren Figurenstudie (Abbildung 65) beobachten. Von der Form des Rumpfes ausgehend wird in der Arm und Beinhaltung die Ordnung der geometrischen Form fortgeführt. Der Arm auf der rechten Seite ist dabei eine konsequente Weiterführung des Ansatzes, wie er in der Aktfigur mit den hinter dem Rücken verschränkten Armen vorliegt. Die gespreizte, schräge Stellung der Beine führt die aus der Rautenform des Unterleibs sich ergebenden Richtungen fort.
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Abbildung 64 Aktstudie, 1907. Überlagerung mit der Geometrie der "Rautenfigur.
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Abbildung 65.Aktstudie, 1907. Überlagerung mit der Geometrie der "Rautenfigur.
In dem senkrecht herabhängenden Arm auf der linken Seite ist die geometrische Ordnung der Schrägen um senkrechte Elemente erweitert. Schon in der "Rautenfigur" ordnete sich ein Gitter von senkrechten und waagrechten Linien in das System ein. Die Zeichnung einer Aktfigur aus dem auf den Winter 1906/07 datierten Skizzenbuch bestätigt die Annahme, daß die Schrägen um senkrechte und waagrechte Elemente ergänzt werden können (Abbildung 66). Sie zeigt im Bereich des Rumpfes eine um senkrechte und waagrechte Mittelachse erweiterte Raute, die sich an entsprechender Stelle auch in der geometrischen "Rautenfigur" findet, wobei hier allerdings die Senkrechte und die Waagrechte nur angedeutet sind. Ein weiterer Beleg liegt in einer kleinen Aktskizze (Skizzenbuch Mai 1907) vor, die die schon bekannte Armhaltung mit abgespreizten Ellbogen um zwei senkrechte Linien erweitert (Abbildung 67). Beide Skizzen demonstrieren im übrigen das direkte Neben- und Ineinander von abstrakt-geometrischer und naturalistischer Form in dieser Zeit.
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Abbildung 66 Aktstudie, 1907.
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Abbildung 67 Rückenakt, 1907.
Die Entwicklung der aus den beschriebenen geometrischen Voraussetzungen entstehenden Figuren nimmt ihren Ausgang von den paarweisen, annähernd symmetrisch gestalteten Figurenkompositionen des Jahres 1906. Besonders deutlich zeigt dies der Entwicklungsweg des prägnanten hockenden Rückenakts rechts im Bild der "Demoiselles"(Abbildung 69 und 70). Ausgangspunkt ist eine Zeichnung mit zwei sitzenden Aktfiguren im Skizzenbuch vom Winter 1906/07.[26].Beide Figuren werden auch in Einzelstudien fortgeführt. Die frontal sitzende Aktfigur wandelt sich zunächst kaum. Sie taucht mehrmals in den Kompositionsskizzen zu den "demoiselles d'Avignon" auf und existiert im Skizzenbuch vom März 1907 neben der Variante eines Aktes mit zur Seite geknickten Beinen.[28]. Bemerkenswert ist, daß in den Studien zu der sitzenden Rückenfigur vereinzelt bereits Tendenzen einer Geometrisierung festzustellen sind, die auf die geometrische Struktur der späteren "Hockfigur" verweisen (Abbildung 68). Der Punkt, an dem sich die Idee der Umgestaltung der sitzenden Figur zur gespreitzt hockenden Figur durchsetzt, läßt sich in einer Zeichnung des Skizzenbuches vom Winter 1906/07 finden.[29].
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Abbildung 68 Sitzender Rückenakt, Skizzenbuch Winter 1906/07.
Von hier aus führt der Weg direkt zu der "Hockfigur", wie sie in verschiedenen Entwürfen -von naturalistischer Darstellung bis zu mehr oder weniger starker Geometrisierung- im Skizzenbuch vom März 1907 erscheint (Abbildung 72). Eine Variante besteht darin die Figur, bei unveränderter Haltung, frontal zum Betrachter zu drehen.[30]
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Abbildung 69 Studien zum hockenden Rückenakt. Skizzenbuch März 1907.
Die geometrisierten Varianten verweisen in der Bildung des Rumpfes aus Geraden mit scharf akzentuiertem Tailleneinschnitt auf die Rumpfformen der oben angeführten Figurenskizzen und damit das geometrische Konzept. Bemerkenswert ist, daß sich auch die Gesamthaltung in idealer Überdeckung mit diesen Grundstrukturen befindet. Die Form und Haltung des Rumpfes und der Oberarme entspricht den eingangs angeführten Akten mit den hinter dem Rücken verschränkten Armen. Die Oberschenkel ergänzen die schon bekannte geometrische Figur und auch die spitze Ausformung des Gesäßes findet eine formale Begründung (Abbildung 73). Hinzu kommt, daß die Figur sich in dieser Haltung in die V-förmige Linienführung auf der rechten Seite der Komposition einpaßt und auf diese Weise vollkommen in die kompositorische Gesamtstruktur integriert ist.
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Symbolische, psychologische und ähnliche Interpretationsansätze werden von diesem formalen Aspekt nicht berührt. Der Versuch einer Repräsentation der Figur innerhalb der Vorgaben eines geometrischen Konzepts bekundet jedoch die gleiche bildnerische Absicht, die in entwickelter kubistischer Form die späteren Bilder und Skizzen erkennen ließen. Als Beispiel sei auf die Bildung des Tisches und seine Integration in die kompositorische Gesamtstruktur in den Stillebenskizzen von 1946, oder auf die Entwicklung der Bildgegenständlichkeit über Schnittpunktverbindungen im Stilleben von 1920 verwiesen. Ausgehend von überlieferten Harmonievorstellungen entsteht 1907 im Bemühen um eine Synthese von abstrakter Form und Gegenstandsgestalt das bildnerische Problemfeld, aus dem, im Widerstreit von Naturvorbild, Raum, Volumen und flächiger, abstrakter Ordnung, eine neue bildnerische Sprache geformt wird.
Die bei einer Reihe von Figurenskizzen des Jahres 1907 feststellbaren Tendenzen einer linear-flächigen Geometrisierung beziehen sich auf die im Proportionssystem des "Geometrischen Aktes" formulierte Struktur. Sie entspricht den Gliederungsformen für die gesamte Bildfläche. Zentrum und Ausgangspunkt sind offenbar die Durchdringungsformen in der Leibesmitte. Von diesen kommend wird, im Wechselbezug zwischen formalen Vorgaben und naturalistischer Körperform, die Figur entwickelt. Dabei geht es nicht um einen willkürlichen Akt der Verwandlung menschlicher Gestalt in geometrische Formen, sondern um die Übereinstimmung von Bildinhalt (Gegenständlichkeit) und Bildform (Abstrakte Ordnung). Je mehr die Gegenstände ihre Form dem naturalistischen Vorbild entlehnen, desto stärker muß die geometrische Form "gebeugt" werden. Gleichzeitig wird um so mehr eine "stilisierende Kraft" erfahren; die Integration in die formale Vorgabe geometrischer Ordnung gerät in einen Kampf mit der naturalistischen Form, die in deren (interpretierter!) "Zerstörung" resultiert. Die Lösung dieses Darstellungsproblems liegt letztlich in einer Abkehr von der naturalistischen "Seh-Form" zur "Denk-Form", d.h. zur flächigen Repräsentation der Dingmerkmale, zum konzeptuell entwickelten Zeichen, zur "Objektformulierung".[31] Die Synthese von Gegenstandsrepräsentation und Bildordnung durch ein gemeinsames formales Strukturprinzip zeigt sich im Bild der "Demoiselles" dem Betrachter deutlich:
"Nirgends jedenfalls gibt es eine vom Standpunkt des Beschauers aus zur Tiefe hin lenkende Fluchtlinie: statt eines Raumes im perspektivischen Sinne haben wir nur eine Fläche." (...)
"Diese Negierung des Raumes - (...) - ist im Bild der "Mädchen von Avignon" derart wirksam, dass sie die an sich klare, um eine Mittelfigur angeordnete Figurengruppierung kaum noch spürbar werden läßt, da ein Rhythmus spitzer Brechungen die Mädchen, die Tücher, die Vorhänge, die Decken, den Boden und die Wand gleicherweise erfaßt. So macht die Komposition den Menschen zu einem Gegenstand unter gleichwertigen anderen Gegenständen (...)." [32]
Um Mißverständnissen entgegenzutreten: Es wird an dieser Stelle noch einmal betont, daß sich die vorliegende Darstellung auf einer formalen Ebene bewegt und insbesondere das Bild der "Demoiselles d'Avignon" weitaus vielschichtiger und keineswegs auf diese Dimension allein zu reduzieren ist. Die Bedeutung einer ganzen Reihe von ikonographisch, psychologisch etc. orientierten Darstellungen kann nur unterstrichen werden.
Für die alte Streitfrage nach dem Einfluß der "Negerkunst" allerdings ergibt sich ein neuer Aspekt. Bekanntermaßen hat Picasso einen Einfluß der Negerplastik stets bestritten. " Er habe erst im Herbst 1907, als das Bild schon beiseitegelegt war, die Negerskulptur kennengelernt, als er zufällig in das ethnographische Museum des Trokadero gekommen sei. Da habe sie ihn freilich tief betroffen und er habe gesehen, wie sehr er bei seinen Bemühungen den Prinzipien dieser Kunst unbewußt nahegekommen sei." [33] Obwohl mittlerweise bekannt ist, daß Picasso schon vorher Negerplastiken kannte, ist gleichzeitig nachgewiesen, daß keiner der afrikanischen Maskenköpfe, die mit den "Demoiselles" in Verbindung gebracht werden, Picasso im Jahre 1907 zugänglich war.[34] William Rubin kommt zu dem Schluß: " Die Ähnlichkeiten (...) sind also rein zufällig - Ausdruck einer inneren Nähe von Kunstrichtungen, die sich durch konzeptuelle Zeichen mitteilen und nicht durch Konventionen der Malerei, die unmittelbar aus dem Sehen abgeleitet sind." [35]
Zwar kann man im Bereich der untersuchten Figuren von 1907 noch nicht von konzeptuellen Zeichen sprechen, allenfalls von Versuchen in dieser Richtung, doch berücksichtigt man die festgestellten, in klassischer Anschauung wurzelnden Tendenzen, so ist zu sehen, daß sich Picasso, aus einer ganz anderen Richtung kommend, den auch der afrikanischen Plastik eigenen formalen Prinzipien nähert. Das deckt sich mit seinen Äußerungen. Ohnehin steht Picasso innerhalb einer internationalen Bewegung, die archaische und "primitive" Kunstformen für sich entdeckt. Und er setzt sich, wie zu dieser Zeit weite Kreise in Südeuropa und Frankreich, mit der Wiederentdeckung und Belebung der klassischen und archaischen Kunst der griechischen und römischen Antike auseinander. Die Annäherung und Begegnung beider Bereiche liegt in den Tendenzen der Zeit. " So paradox es klingt: Die Erneuerung der antiken Lebensfülle durch die Aneignung ursprünglicher, >wilder< Kulturen erschien dem modernen Europäer als Rettungsanker." [36]
Sieht man die "Formalisierung" einer klassischen Kunstauffassung am Ausgangspunkt der Entwicklung einer konzeptuellen Bildsprache, so erscheint auch in der späteren, oft als Bruch empfundenen "Rückkehr" Picassos zum Klassizismus eine Kontinuität der künstlerischen Anschauung. Die untersuchten Arbeiten von Picasso aus dem Jahr 1907 jedenfalls, und die Fortführung der formalen Ansätze im späteren Werk, deuten auf ein einheitliches Strukturprinzip hin. Es zeigt sich als ein wechselweises Ineinanderarbeiten und Zusammenfügen des Aufbaues der Figur, d.h. von innen nach außen, und der Flächengliederung, also von außen nach innen. Das Konzept beruht auf einer in der Grundstruktur einfachen, aber enorm erweiter- und kombinierbaren Formensprache. Eine Vorgehensweise dieser Art nähert sich der Annahme eines "festgelegten flächengeometrischen Kompositionsplanes"[37] und es ist bemerkenswert, daß sich bereits 1908 ein ähnlicher Eindruck einem der ersten Rezensenten des Kubismus, Charles Morice mitteilt, allerdings bei Werken Braques:
" Augenscheinlich geht er von einem geometrischen a-priori aus, dem er den ganzen Bereich seines Sehens unterwirft; er meint die gesamte Natur durch die Kombination einer kleinen Anzahl von absoluten Formen ausdrücken zu können."[38]