Der allezeit fertige
Polonoisen= und Menuettencomponist

von Johann Philipp Kirnberger


1. Die musikalischen Würfelspiele

Joh. Ph. Kirnberger veröffentlichte seine Schrift "Der allezeit fertige Polonoisen= und Menuettencomponist" im Jahre 1757. Die Spielerei, über Würfelergebnisse Musik-stücke zu produzieren - diese also über den Zufall entstehen zu lassen - lag in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Luft. "Diese Art von Spielerei kann nur einer Geistigkeit entspringen, wie sie das sterbende Rokoko verkörpert. Jedes Spiel ist schließlich eine Spiegelung der wahren Gedanken. Das rationalistische Zeitalter erwägt durchaus ernsthaft die Möglichkeit des mechanischen Komponierens an mehr als einer Stelle" (4).

Carl Phil. Eman. Bach hat sich ebenfalls mit dem Problem auseinandergesetzt. Interessanterweise ist bei Marpurg (9) dessen "Einfall einen doppelten Contrapunct in der Octave zu machen, ohne die Regeln davon zu wissen" unter der Nr. X aufgeführt und Kirnbergers Würfelanleitung unter VI im selben Band kommentiert.

Andere Autoren, die sich mit mathematisch begründetem oder durch mechanische Apparate produzierbarem Komponieren befaßten, sind u.a. "Mizler 1739, J. Haydn (fraglich, 1793), F. G. Hayn 1798, J.C. Graf, C. H. Fiedler 1801, L. Fischer, A. Calegaris 1801, G. Catrufo 1811" (4). Auch W. A. Mozart wird als Autor eines Würfelspiels zitiert (KV 294d unter unterschobenen Werken).

Die Titel o.a. Autoren sind zwar überliefert, konnten aber in deutschen Bibliotheken nicht aufgefunden werden (4), oder sind ihnen nicht zweifelsfrei zuordenbar. So haben wir uns entschlossen, Kirnbergers Schrift als Prototyp für die Anweisung zu einem musikalischen Würfelspiel wiederzugeben.

Kirnberger selbst spricht davon, daß er die Idee - wenn auch unvollkommen - übernommen hat. Vielleicht fand er Anregungen im Buch VIII (Liber mirificus) der "Musurgia ..." (6), die der Gelehrte Athanasius Kircher (1601 - 1680) veröffentlichte. Nach ihm ist musikalische Eingebung zum Komponieren nicht mehr notwendig, geschicktes Manipulieren mit Zahlen genügt. Sogar eine Komponiermaschine wird beschrieben. (Kircher war natürlich nicht durch die Denkweise des Rationalismus geprägt; für ihn ist die allem Seienden zugrundeliegende und durch Mathematik beschreibbare Gottesordnung ein Axiom.)

Vielleicht aber auch hat Kirnberger die Ideen von J. Swift ("Gulliver im Lande der Mathematiker") übernommen. Hier wird gezeigt, wie Buchstaben über Würfeln zu Wörtern und Sätzen, ja zu ganzen Enzyklopädien aller Wissenschaften zusammengesetzt werden (12).


2. Kirnbergers Würfelspiel als Dokument eines Paradigmenwechsels in der Musik

Die Anleitung von Kirnberger ist nun nicht nur ein Dokument eines "Rokoko-Spielchens", sondern ein ebensolches eines grundlegenden Wandels in der Kompositionstechnik, wie A. Feil in seiner Dissertationsschrift zeigt (3):

Bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts war das Generalbaßspiel der Weg, sowohl Spieltechnik wie auch die Grundlage der Komposition zu erwerben. Heinichen (5): "Was heißt endlich Generalbaßspielen anderes, als zu der einzigen vorgelegten Baßstimme die übrigen Stimmen einer völligen Harmonie ex Tempore zu erdenken oder dazu komponieren?" Und Kirnberger sagt bei Sulzer: "Ein solcher Baß also ist der Grund der Harmonie ... Wenn der Tonsetzer die Folge der Baßtöne gut gewählt und die Töne der obern Stimmen regelmäßig daraus hergeleitet hat, so ist sein Satz rein" (11).

Für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts tritt ein anderes Kompositionsparadigma in den Vordergrund, das zuerst bei J. Riepel (1709 - 1782) dokumentiert wird: Im Mittelpunkt steht die Taktordnung, die Lehre von den Einschnitten in der Musik. Einzelne Takte, die kleinsten musikalischen Bausteine, werden zur Komposition zusammengesetzt. Takte und Taktgruppen können - in gewissem Rahmen beliebig - zusammen- und umgestellt werden; das gleiche gilt für die Noten innerhalb eines Taktes. Ein Stück besteht so aus selbständigen Teilen, die ihrerseits aus Einzeltakten und Taktgruppen bestehen (10).

Genau in diese Zeit des Paradigmenwechsels fällt die Veröffentlichung Kirnbergers. Sie spiegelt bereits den Weg in die neue Musik: "Das Würfelspiel beruht darauf, daß den Stücken ein und derselbe Generalbaß - ein zusammenhängendes Ganzes - zugrundeliegt und die Oberstimmen verändert werden. Sie sind in auswechselbare Takte zerteilt. Der Baß, der im echten Generalbaßsatz den harmonischen Ablauf repräsentiert, und das Stimmengewebe, das diesen Ablauf polyphon verwirklicht, haben sich voneinander gelöst" (3).

Um die Figuren aneinandersetzen zu können, mußten diese eine gewisse Selbständigkeit und Geschlossenheit besitzen; die Figuren mußten einander zugeordnet, und nicht mehr dem Verlauf einer Stimme untergeordnet werden!

Soweit eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse aus A. Feils Arbeit.

Das war das neue Kompositionsprinzip. Kirnberger vertritt es in seinem Würfelspiel, adressiert sogar Musik-Wissenschaftler und -Ausübende (er spricht von "Compo-sitionsverständigen" und "Tonsetzern"), geht also über eine Spielidee hinaus. "Es zeigt, wie stark er in der Musikübung seiner Zeit verwurzelt ist" (1).

Diesem - als Vertreter der neuen Musik - "progressiven" Kirnberger steht aber immer noch der "konservative"; der vom Generalbaß geleitete, Kirnberger gegenüber, der sich in den meisten Kompositionen und vor allem in seinem Werk "Die Kunst des reinen Satzes ..." (7), einer Lehre der Generalbaßpolyphonie, zeigt.


3. Die mögliche Anzahl der Kombinationen in Kirnbergers Würfelspiel

Nun noch eine Bemerkung zum Zitat des Mathematikers Gumpertz.

Er hat übersehen, daß einige der nach dem Würfeln erhaltenen Takte völlig identisch sind. So im Trio der 7. Takt des 1. Teil und jeweils der 7. und 8. Takt des 2. Teils. Das ergibt für den 1. Teil 67, für den 2. Teil 66 Kombinationen und für das komplette Trio ca. 13.000.000.000 Möglichkeiten.

In den Menuettergebnissen sind jeweils die Takte 8 des 1. Teils und die Takte 8 des 2. Teils gleich. Das sind für das gesamte Menuett 67 * 67 = 614, also rund 78.000.000.000 Kombinationen.

Für die Polonoisen ergibt sich bei einem Würfel ebenfalls 66 * 68 = 614, bei zwei Würfeln, die für den Takt 6 des 1. Teils lediglich 7 (und keine 11) verschiedene Ergebnisse liefern, 115 * 7 * 118, angenähert 241.000.000.000.000 unterschiedliche Varianten.

Immerhin sind dies auch noch "Summen, die fast unaussprechlich sind", wie Gumbertz in der Schrift zitiert wird. Diese Zahlen werden ein wenig anschaulicher, wenn wir folgendes Gedankenexperiment anstellen:

"Unsere Polonoise hat 6 Takte im ersten Teil, 8 Takte im zweiten und noch einmal 4 des ersten Teils. Wir nehmen einmal an, sie wird in 35 sec von einem Pianisten gespielt, und dieser Künstler bringt nach einer Sekunde Pause sofort die nächste - eine andere - zur Aufführung. Dann würden 90.000 Jahre vergehen, bis eine Polonoise ein zweites Mal zu Gehör gebracht würde" (8).


4. Computerunterstützung

4.1 beim Komponieren

Nun, wir brauchen keinen Pianisten zu bemühen, der uns einige der neuen Kompositionen vorspielt, sondern nehmen einen Computer zu Hilfe.

"Dazu müssen wir zweierlei tun. Zum einen werden die in den Notentafeln vorgegebenen Takte unter den entsprechenden Nummern gespeichert (die "Charten", von denen Kirnberger spricht). Dies kann entweder dadurch geschehen, daß sie über ein Instrument und eine MIDI-Schnittstelle in den Computer eingespielt werden (Sequenzerfunktion) oder dadurch, daß die einzelnen Takte per Programm sofort als MIDI-Daten programmiert werden.

Zum anderen brauchen wir ein Programm, das Würfelzahlen erzeugt, die entsprechenden Takte zusammenbaut und die neue Komposition entweder in Notenform auf dem Drucker ausgibt oder über eine MIDI-Schnittstelle und angeschlossenem Instrument hörbar macht (Sequenzerfunktion).

Es folgt nun eine nach den Vorgaben Kirnbergers komponierte Polonoise" (8).

Mit einem anderen Computerprogramm, das in der Lage ist, Akkorde zu erkennen, können wir uns die Harmoniestruktur dieses Stückes zeigen lassen und so deren Einheitlichkeit über alle in dieser Weise erstellten Kompositionen überprüfen.

(8)


Der allezeit fertige Polonoisen= und Menuettenkomponist

von Johann Philipp Kirnberger